Was will das werden?

Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? (Apostelgeschichte 2,12) Es ist Pfingsten, 50 Tage nach Ostern schon, gefühlt noch viel länger. Denn hinter uns liegen nun schon weit mehr als 50 Tage Kontaktverbot und viele andere Einschränkungen. Einige Lockerungen hat es schon gegeben. Einige sind entsetzt über allzu forsche Rückkehr zur Normalität. Andere empören sich, weil es ihnen nicht schnell genug geht. Gemeinsam haben wir mit den Jüngern eines: Sie waren alle ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?

Die Leute, die damals in Jerusalem zu Pfingsten versammelt waren, müssen sich nicht um eine Begrenzung der Teilnehmerzahl kümmern, im Gegenteil, sie sind ja froh, dass überhaupt noch welche von ihnen übrig sind. Sie sitzen oben im Haus im Obergeschoß mit niedriger Decke und alle Türen fest verschlossen. Die Luft drinnen ist entsprechend. Menschen, die atmen und sprechen und schwitzen und beten, in einem geschlossenen Raum, ohne ausreichend Abstand. Bedrückend, eng und dumpf und stickig fühlt es sich an.

Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel, wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Sie haben den Wind schon hören können, wie er die Treppe hinaufsauste und sich mit der Tür in den Raum im Obergeschoß warf. Sie haben sein Brausen gehört und das Schlagen der Tür. Er war auf ihrem Gesicht, auf der Stirn und in ihren Haaren, kühl, als käme er vom Meer und so dass man tief einatmen möchte, diesen frischen Wind.

Und wo gerade noch ein Wind ihre Stirnen gekühlt hatte, wurde es plötzlich heiß und hell und es stieg ihnen rot in die Wangen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen. (Apostelgeschichte 2,2+3)p

Kalt und heiß war ihnen jetzt, abwechselnd und gleichzeitig, so heiß, dass sie unbedingt diesen engen Raum verlassen mussten, sofort, unverzüglich, die Treppe hinunter, in heiliger Unordnung und alle zusammen. Und sich wiederfanden draußen vor dem Haus, immer noch wie umbraust, mit kühler Stirn und roten Wangen gleichzeitig.

Ein beachtlicher Menschenauflauf entstand vor diesem Haus und alle sehr aufgeregt. Das ergibt Aufsehen in der Stadt, da kommt man doch mal und schaut, was los ist. Eine nicht genehmigte Versammlung, eine Art Demonstration vielleicht? Die da vor dem Haus sind wirklich außer sich geraten, sogar über ihre Sprachkenntnisse hinaus.
Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache, Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. (Apostelgeschichte 2,8-11)

Als hätten die Zungen wie von Feuer nicht nur die Wangen rot gemacht, sondern auch die Menschenzungen sprachkundig, flink und lebendig. So können sie nicht nur alle zungenbrecherischen Namen dieser Länder und Völker fließend aussprechen, sondern beherrschen auch noch die passenden Sprachen dazu: Hebräisch, Griechisch, Lateinisch und Arabisch samt allen regionalen Dialekten. Es gibt keine Fremdsprachen mehr, es gibt nur noch Muttersprachler. Es gibt keine Fremdheit mehr. Es gibt nur noch Verstehen.

Auch wir haben in den letzten Wochen immer besser verstanden. Alle Menschen, in unserem Land und in der ganzen Welt, verstehen plötzlich: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Es gibt Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Die Welt ist ein komplizierter und gefährlicher Ort. Wir sind vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt, Krankheit ist nur eine davon. Und dass wir leiden und sterben, gehört zu unserem Menschsein.

Die Jünger in Jerusalem und auch wir wussten das eigentlich schon vorher. Kalt und heiß war es ihnen geworden in der Zeit mit Jesus. Dann war das irgendwie vorbei und sie zogen sich wieder zurück und wollten sich selbst genug sein. Deswegen kommt Gottes Geist zu ihnen und jagt sie aus dem Haus, die Treppe runter auf die Straße. Da stehen sie nun. Da stehen wir, mit kühlen Stirnen und roten Wangen, mitten in der Welt, in der eine globale, weltumspannende Krise aus allen Menschen Brüder und Schwestern macht. Oder besser gesagt: Machen könnte.

Was will das werden? Man kann sich das wirklich fragen. Und sich zugleich wundern über manche Probleme hier bei uns: Haben wir in unserem Land keine größere Sorgen als die, ob wir bald wieder essen gehen, Fußball gucken und im Sommer in den Urlaub fahren können? 

In Jerusalem konnten sie plötzlich in allen Sprachen von Gottes großen Taten erzählen. In einer anderen Sprache zu sprechen bedeutet: Sich auf die Denkweise, Lebensweise, Kultur und Sorgen der Menschen, die diese Sprache sprechen, einstellen. Das tut Gott und das will er von uns. 

Wenn es gut geht, dann macht die Corona-Krise uns mit anderen Sprachräumen bekannt und vielleicht sogar sprachfähiger. Wir haben z.B. erfahren von Kindern, die die letzten Wochen weitgehend vor dem Fernseher verbracht haben, ohne Ansprache und Förderung in Kitas und Schulen. Wir hörten die Stimme der Menschen, die aus ihren ohnehin unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen herausgeflogen sind oder sich nach der Arbeit im Schlachthof in der Sammelunterkunft angesteckt haben.

Wir hören, dass in Berlin in wenigen Wochen ein nagelneues, perfekt ausgestattetes Notkrankenhaus mit 500 Notfallbetten aufgebaut wurde. Aber zur gleichen Zeit haben Menschen anderswo auf der Welt überhaupt keine medizinische Versorgung.

Die Armen und Schwachen kommen aus anderen Milieus als wir. Sie leben woanders auf der Welt, sie sprechen andere Sprachen. Aber sie sind keine Fremden. Der Geist von Pfingsten verbindet uns mit ihnen. Er macht uns die Stirn kühl, damit wir erkennen, was falsch läuft in unserer Welt. Und er macht uns das Herz heiß und die Wangen rot. Damit wir handeln und vielleicht sogar – wie die Jünger – auf die Straße gehen.